Cover
Titel
Von Helden und Opfern. Eine Geschichte des Volkstrauertags.


Autor(en)
Kaiser, Alexander
Reihe
Campus Historische Studien 56
Erschienen
Frankfurt 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Patricia Hertel, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Freiburg (Schweiz)

Die Analyse lokaler und nationaler Feiertage hat sich seit den späten 1980er-Jahren in der deutschen Geschichtswissenschaft fest verankert. Historiker, die im Zug einer vertieften Beschäftigung mit Kulturgeschichte nach Rolle und Funktion von symbolischer Politik und den damit verbundenen Mechanismen von Identitätskonstruktion fragten, fanden in punktuellen und periodisch wiederkehrenden Festen dafür einen geeigneten Gegenstand. Deshalb existiert mittlerweile eine Fülle von Sammelbänden und Monographien zu Festen, Feiern und Jubiläen. Die Einführung, die Umformung und das Abschaffen von Feiertagen illustrieren dabei insbesondere für die letzten zweihundert Jahre Kontinuitäten und Brüche der wechselvollen deutschen Geschichte. Angesichts dessen erstaunt es, dass bislang noch keine systematische und diachrone Untersuchung eines Feiertags vorlag, der sich – mit inhaltlichen und rituellen Anpassungen – seit 1922 bis heute halten konnte: des Volkstrauertags. Diese Lücke schliesst nun die kulturwissenschaftliche Studie von Alexandra Kaiser, die aus einer Dissertation an der Universität Tübingen im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs «Kriegserfahrungen» hervorgegangen ist.

Die Autorin gibt einen informativen und dichten Überblick über die Geschichte des Volkstrauertags sowie die Rolle seines Trägers, des 1919 gegründeten Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Dieser veranstaltete am 5. März 1922 im Berliner Reichstag erstmals eine Gedenkstunde für die im Ersten Weltkrieg gestorbenen Soldaten. Ab 1924 setzte sich der Gedenktag zunehmend, jedoch nicht flächendeckend durch. Er wurde damals am ersten, später am zweiten Sonntag der Passionszeit begangen, um sich vom November als Monat des traditionellen Totengedenkens der beiden christlichen Konfessionen, des katholischen Allerseelentags und des evangelischen Totensonntags abzuheben. Die unterschiedliche Durchsetzung des Volkstrauertags auf lokaler Ebene in der Weimarer Republik zeigt Kaiser vertiefend anhand der Fallstudien Hannover, Stuttgart und München auf: Während sich der Gedenktag in Hannover durchsetzte, grenzten sich Stuttgart und München, wie Württemberg und Bayern insgesamt, aufgrund ihrer reichskritischen Haltung sowie religiös-konfessioneller Gründe vom Konzept des Volksbunds ab. Sie veranstalteten stattdessen länderspezifische Gedenkfeiern. Ab 1933 unterstützten die Nationalsozialisten die Aktivitäten des Volksbunds und machten den Volkstrauertag zum «Heldengedenktag». In diesem rückte der Aspekt des trauernden Gedenkens zunehmend zugunsten einer Glorifizierung der Wehrmacht und der militärischen Stärke des Deutschen Reichs in den Hintergrund. 1939 verlegte Hitler den Termin auf den 16. März als Jahrestag der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht und löste ihn damit aus der Verbindung mit dem Kirchenjahr.

Nach Kriegsende gelang es nach längeren Verhandlungen über Form und Termin zwischen Volksbund, den Kirchen und der Regierung, den Volkstrauertag wieder einzuführen. Er wurde nun bundesweit auf den zweiten Sonntag vor dem 1. Advent festgesetzt, den Termin, den er bis heute innehat. Insbesondere seit den 1960er-Jahren kam es zu einer rhetorischen Erweiterung des Gedenkens, das nicht nur die «Gefallenen» der Kriege, sondern «alle Opfer von Krieg und Gewalt», also auch die im Nationalsozialismus Verfolgten und die Zivilbevölkerung, einschloss. Kaiser betont jedoch, dass diese Rhetorik der offiziellen Gedenkfeiern sich nicht auf die lokale Ebene niederschlug und in den Städten und Gemeinden das Gedenken an die «eigenen Opfer» im Vordergrund stand (353). Für die Zeit nach der Wiedervereinigung konstatiert Kaiser angesichts der Verbindung des Volkstrauertags mit dem Gedenken an die in Auslandseinsätzen getöteten Bundeswehrsoldaten eine «Re-Heroisierung des Volkstrauertags» (394ff.), in dem dieser zunehmend wieder in seine Rolle als Soldatengedenktag schlüpft. Diese Heroisierungstendenz zeige sich auch bei den zunehmenden Ehrungen jüdischer Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs seitens jüdischer Gemeinden zu diesem Datum. Insgesamt macht die Autorin das «rituelle ‹Anpassungspotential›» (405) des Volkstrauertags dafür verantwortlich, dass er anders als viele andere Feiertage die politischen Brüche der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert überstehen konnte und für verschiedene Formen und Inhalte des Gedenkens anschlussfähig war.

Methodisch verbindet die Autorin eine institutionengeschichtliche Untersuchung des Volkstrauertags mit symbol-, medien- und ritualanalytischen Zugängen, bei denen sie fruchtbar verschiedene Ansätze und Konzepte verbindet. Die Fülle an Quellenmaterial – u.a. Schriften des «Volksbunds», Stellungnahmen der Kirchen und der Politik sowie Presseberichte aus Zeitungen, Radio und Fernsehen – analysiert sie detailliert und differenziert. Dabei wahrt sie stets die grossen Linien, die zum Verständnis eines langen Untersuchungszeitraums nötig sind. Gewinnbringend für den kulturwissenschaftlich interessierten Leser sind viele kulturhistorische Ausführungen: beispielsweise zur Semantik von «sacrificium» und «victima», deren unterschiedlichen Gehalt das deutsche «Opfer» zu verschleiern vermag, zur Symbolik des Trauerkranzes und zur Rezeption des «Liedes vom guten Kameraden» von Ludwig Uhland, das sich mit seiner Interpretationsoffenheit in verschiedenen politischen Systemen als Teil der Feierlichkeiten etablieren konnte. Dabei wird man nicht unbedingt allen Interpretationen der Autorin folgen müssen, beispielsweise wenn sie das Kranzschleifen-Anordnen der Politiker in gebückter Haltung vor der Kollwitz-Pietà in der Neuen Wache vor allem als «performativen Vollzug einer nationalen Selbstbemitleidung und einer symbolischen Hofierung der deutschen Opferrolle» (384) deutet. Hier wären auch andere Interpretationen denkbar. Doch ist es ihr Verdienst, Rituale und Performanzen auf ihre verschiedenen Ebenen hin zu befragen und damit auf deren Vieldeutigkeit und Interpretationsoffenheit hinzuweisen.

Mit ihrer übersichtlichen und facettenreichen Darstellung legt Kaiser nicht nur ein Grundlagenwerk zum Volkstrauertag vor. Die sehr gut lesbare, flüssig geschriebene Studie gibt darüber hinaus Aufschluss über Kontinuität und Wandel deutscher Symbolpolitik im 20. Jahrhundert, über den Umgang von Regierungen und Institutionen mit dem Kriegserbe sowie über die Konkurrenz zwischen Kirchen und nichtkirchlichen Institutionen bezüglich des Totengedenkens. Vergleicht man die heute eher geringe Wahrnehmung des Volkstrauertags in breiten Bevölkerungsschichten mit anderen Ländern, etwa dem in Grossbritannien aufwendig begangenen «remembrance sunday», stellen sich weiterführende Forschungsfragen zur Gedenkund Erinnerungskultur in einem europäischen Horizont. Darüber hinaus hat die Frage nach Art und Weise eines Gedenkens an die bei Nato-Einsätzen getöteten Soldaten im 21. Jahrhundert in vielen europäischen Staaten eine traurige Aktualität gewonnen. Der Blick in die Geschichte des Volkstrauertags macht deutlich, wie vielschichtig die Herausforderung des institutionalisierten Totengedenkens ist.

Zitierweise:
Patricia Hertel: Rezension zu: Alexandra Kaiser, Von Helden und Opfern. Eine Geschichte des Volkstrauertags, Frankfurt/ New York, Campus, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 734-735.